Artikel vom 
November 29, 2022

Selbstmitgefühl lernen - wie geht das?

Lesedauer 6 Minuten

Zu Beginn, lass mich dir eine Frage stellen: Wer ist der wichtigste Mensch in deinem Leben?

Ich kann mir gut vorstellen, dass in deinem Kopf gerade Bilder von geliebten Personen entstanden sind. Deinem Partner, deiner Mutter, deinem Bruder oder der besten Freundin … Menschen, bei denen wir uns gut vorstellen können, dass sie uns, solange sie leben, unterstützen und uns zur Seite stehen. Das wünsche ich dir aus ganzem Herzen. Dennoch ist es ungewiss, ob die Menschen dich (aus verschiedensten Gründen) ein Leben lang begleiten können.

Auf wen kannst du dich dann verlassen? Auf dich selbst.

Mindestens genauso wichtig, wie die Beziehung zu deinen Lieblingsmenschen, ist die Beziehung zu dir selbst. Denn eins ist sicher: Du wirst („musst“) dir dein Leben lang zur Seite stehen. 

Wir behandeln unsere Liebsten häufig mit viel Fürsorge und Liebe. Kümmern uns, haben stets ein offenes Ohr und einen guten Rat für sie. Wir akzeptieren sie mit all ihren Stärken und Schwächen, und verurteilen sie nicht für Fehler, sondern bestärken sie mit aufmunternden Sätzen wie „dass uns das allen mal passieren kann und alles wieder gut wird.“

Machen wir jedoch denselben Fehler, neigen wir dazu, uns dafür zu verurteilen und mit uns besonders hart ins Gericht zu gehen. Woran liegt das?

Und wann beginnen wir, uns selbst genauso gütig, geduldig und liebevoll wie unseren Freund:innen und unserer Familie zu begegnen?

All diesen Fragen gehen wir hier auf den Grund.

Warum wir zu unseren Freund:innen freundlicher sind als zu uns selbst

Dass wir zu unseren geliebten Mitmenschen viel netter sind, erklärt man sich in der Psychologie damit, dass wir vor uns selbst keine Schamgrenze haben. Das bedeutet, dass wir uns selbst Sätze sagen können wie „Ich bin einfach zu dumm“, ohne dass ein besonders großes Schamgefühl entsteht. Sprächen wir hingegen mit unserem Umfeld auf diese Art und Weise („Du bist einfach zu dumm.“) würden wir uns vermutlich früher oder später dafür schämen. Doch wir bekämen nicht nur ein schlechtes Gewissen, auch würden wir mit großer Wahrscheinlichkeit unsere Beziehung zu diesen Menschen riskieren. Wir sind gut zu unserem Umfeld, weil Bindung eins der menschlichen Grundbedürfnisse ist und der Mensch ein soziales Wesen ist, das nach menschlichen Beziehungen strebt.

Doch was ist mit der Beziehung zu uns selbst? Wenn wir mit harter, scharfer Kritik die Beziehungen zu unseren Mitmenschen riskieren, riskieren wir dann nicht auch die Beziehung zu uns selbst, wenn wir uns sofort für alles kritisieren? 

Die Antwort lautet JA - und doch merken wir dies oft erst nach einer geraumen Zeit.

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Warum sind wir so hart zu uns selbst? Woher kommt das?

Jedes Verhalten, das wir Menschen an den Tag legen, egal wie gut oder schlecht es für uns ist, hat immer eine Funktion, einen Nutzen für uns. Was ist also die Funktion vom stetigen Meckern mit uns selbst?

Wenn wir hart zu uns sind und uns selbst verurteilen, kritisieren wir uns. Die Funktion von Kritik ist Verbesserung. Wir versuchen uns mit unserer harschen Selbstkritik anzutreiben und uns zu besseren „Leistungen“ zu motivieren. Mit Motivation hat ein harter Umgang mit sich selbst jedoch nichts zu tun. Oft geschieht das Gegenteil: Wir machen uns fertig, fühlen uns minderwertig, überfordert und hilflos und versetzen uns in Stress. Anstatt uns selbstfürsorglich zu begegnen, springt unser Stresssystem an.

Doch es gibt viele weitere Erklärungen für das ständige Herumnörgeln und Meckern mit sich selbst. Auch gesellschaftlich scheint es akzeptabler zu sein, sich eher selbstkritisch als selbstmitfühlend zu begegnen. Dies wird in Sprüchen wie „Eigenlob stinkt“ und „Hochmut kommt vor dem Fall“ deutlich. Ebenso wird in vielen Religionen das Ableisten von Buße, Schuld und Sühne gepredigt, so dass es uns näher liegt, uns selbst einmal mehr zu kritisieren als zu loben. Auch über unser evolutionäres Gehirn lassen sich Erklärungen finden. Aufgrund der Negativprägung des Gehirns sind wir stets mehr mit Negativem (zum Beispiel Problemen und Gefahren) beschäftigt als mit Positivem, um Katastrophen möglichst abzuwehren. Somit leuchtet es ein, dass wir dazu neigen, eher unsere Misserfolge als unsere Erfolge zu sehen.

Wenn du nun merkst, dass du auch dazu neigst, dir selbst eher unfreundlich gegenüber zu begegnen, dann kannst du in diesem Artikel lernen, was Selbstmitgefühl ist und warum es wichtig ist.

Was ist Selbstmitgefühl?

Selbstmitgefühl bedeutet, sich selbst genauso liebevoll und fürsorglich zu begegnen wie einem geliebten Menschen gegenüber. Um Selbstmitgefühl zu verstehen, ist es daher wichtig, zunächst die Definition von Mitgefühl zu kennen, welche auf drei zentralen Säulen fußt:

  1. Achtsame Wahrnehmung von Not
  2. Verbundenheitsgefühl
  3. Aktive Veränderungsmotivation

Um mitfühlend zu sein, ist es wichtig, 1) die Not erstmal zu erkennen; aufmerksam zu sein, sie zu registrieren und zuzulassen. Dies erfordert Mut und Entschlossenheit, da es schwer sein kann, sich einzugestehen, dass ein geliebter Mensch (oder man selbst) in Not ist und wir dazu neigen, unangenehme Gefühle wegzudrücken. An dieser Stelle geht es darum zu lernen, sich jeglichen Gedanken und Gefühlen zu öffnen und sie auf achtsame (also nicht wertende, sondern annehmende Weise) zuzulassen.

Mitgefühl hängt ebenso mit einem 2) starken Verbundenheitsgefühl zusammen. Wenn uns jemand von seinen Problemen berichtet, könnten dann Gedanken bei uns aufkommen wie „Ich weiß wie sich das anfühlt“ oder „Ich kenne das“. Aber Achtung: Mitgefühl sei an dieser Stelle nicht mit Mitleid zu verwechseln. Fühlt man mit jemandem mit, begegnet man sich auf Augenhöhe („Ich kenne das“ etc.). Mitleid hingegen kommt aus einer hierarchisch etwas höheren Position (einem Gefühl der Überlegenheit), was durch Sätze wie „Du Arme/r.“ deutlich wird und anstelle von Verbundenheit eher mit einem Gefühl des Getrennt-Seins assoziiert wird. Sprechen wir von Selbstmitgefühl, entsteht das Verbundenheitsgefühl meist, wenn man sich bewusst macht, dass viele Menschen auf der Welt dieselben Schmerzen kennen und dass man damit nicht allein ist. 

Die Kombination aus der 1) achtsamen Registrierung von Schmerz und Leid und dem 2) Verbundenheitsgefühl bewirkt meistens eine hohe 3) aktive Veränderungsmotivation. Es entsteht eine hohe Motivation sowie der engagierte Wunsch, das Leid aktiv zu lindern, im Sinne der Fragen: „Was kann ich tun, um mein Leid/ das Leid Anderer zu beenden? Was brauche ich/ die Anderen?“ Beim Selbstmitgefühl geht es daher nicht nur darum, mitfühlend, trostspendend und wertschätzend zu sein, sondern es geht auch um ein beherztes Handeln, so dass auch ein aktives Element in die Definition integriert ist: der Wunsch aktiv zu werden, um das Leid zu beenden.

Die Komponente der hohen aktiven Veränderungsmotivation könnte zur Annahme führen, es würde beim (Selbst)-mitgefühl darum gehen, negative Gefühle möglichst fernzuhalten, sie abzuwenden und schnell zu „bekämpfen“. Mitgefühl ist jedoch kein Weg raus aus den Gefühlen. Es geht dabei nicht darum, bestimmte Gefühle kleinzureden, um sie „wegzumachen“. Es geht darum, einen bestimmten Umgang mit unangenehmen Gefühlen zu beherzigen. Einen Umgang, der annehmend, wertschätzend und tröstend ist und zugleich umsorgend, beschützend und motivierend.

Wofür ist Selbstmitgefühl wichtig?

Wie oben erwähnt, aktiviert Selbstmitgefühl unser Sicherheits- und Fürsorgesystem. Begegnen wir uns hingegen selbstkritisch, vertieft sich über die negative Bewertung unser Schmerz und unser Stresssystem springt an. Ein mitfühlender Umgang hängt insofern mit der Linderung von Stress und Folgeerkrankungen zusammen. Auch schult dich ein selbstmitfühlender Umgang in unserer Körper- und Gefühlswahrnehmung. Kennst du Gefühle, kannst du auch deine dahinter liegenden Bedürfnisse verstehen und kannst diese kommunizieren, um Beziehungen auf Augenhöhe zu führen. Somit ist Selbstmitgefühl nicht nur für uns, sondern insbesondere auch für die Beziehung zu unseren Mitmenschen von hoher Bedeutung. 

Studien zeigen, dass Menschen mit hohem Selbstmitgefühl sich zufriedener und sicherer in ihren Beziehungen fühlen. Auch von ihren Partner:innen werden sie als emotional zugänglicher, akzeptierender und Autonomie fördernder beschrieben. Wer sich selbst gut versorgt, kann auch gut für andere da sein, da mehr emotionale Ressourcen zur Verfügung stehen. Wohingegen Menschen mit niedrigem Selbstmitgefühl dazu neigen, sich anderen eher unterzuordnen, gehen Menschen mit viel Selbstmitgefühl häufiger Kompromisse ein. Es besteht eine größere Bereitschaft zu vergeben und Beziehungsverletzungen zu heilen, was sich positiv auf die Beziehungsharmonie auswirkt.

Sich selbst gut kennen, mitfühlend begegnen und sichtbar machen (durch die Kommunikation von Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen) wirkt sich also nicht nur positiv auf deine Beziehung zu dir selbst, sondern auch auf die Beziehung zu deinen Mitmenschen aus: Es erleichtert das Zusammenleben und fördert Gefühle von Empathie.

Selbstmitgefühl kann somit sehr heilsam sein. Vielleicht hast du Lust, dir in nächster Zeit ganz bewusst selbstmitfühlend zu begegnen, indem du:

  1. die Entschlossenheit und den Mut fasst, auf all deine sich einstellenden Gefühle, Bedürfnisse und Körperempfindungen zu achten und dir damit achtsam begegnest,
  2. dir bewusst machst, dass Leid, Schmerz und Fehler zu jedem Menschenleben dazu gehören und es viele andere gibt, denen es ähnlich geht und
  3. du dich aktiv fragst, was du gerade gebrauchen kannst, damit es dir besser geht. Eine heiße Milch mit Honig, einen kleinen Spaziergang, ein schönes Telefonat mit einem lieben Freund/ einer lieben Freundin oder eine kleine Sporteinheit?

Du wirst sehen - Selbstmitgefühl kann man lernen. Es erfordert nur ein bisschen Übung. Aber Übung macht ja bekanntlich den Meister! 

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Friederike Schubbert

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